Osiris von Ottenthal
PN 2011/266

Mein Alter wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben, aber auch ich dürfte noch sehr jung sein. Den Gefahren der Wildnis entkommen muss ich mich nun auch nicht mehr vor Menschen fürchten, die sich von der Kaninchen-Invasion in Ottenthal bedroht gefühlt haben. Ich verstehe natürlich, dass sich niemand über unsere Tunnel freut und wir haben aus Hunger auch viele Gemüsebeete geplündert - aber wir sind genauso unschuldig an der ganzen Situation wie die unbeteiligten Zweibeiner. Wir sind halt nunmal Kaninchen und wir haben versucht, zu überleben. Jetzt werde ich liebevoll versorgt und ich lerne Menschen von einer ganz anderen Seite kennen. Da ich noch jung bin hoffen alle, dass ich schon ganz bald zutraulicher werde. Vielleicht darf ich ja bei einem menschenbezogenen Burschen einziehen, da könnte ich mir sicher viel abschauen. Ich hoffe jedenfalls auf die ganz besonderen Menschen - die auf meine ganz besonderen Bedürfnisse eingehen und die viel Geduld mit mir haben. Ich bin bereits kastriert und lebe im Moment in Außenhaltung.
Dezember 2011

Auch nach Monaten bei der Helpline war ich den Menschen gegenüber noch sehr scheu. In Absprache mit verschiedenen Fachleuten haben meine Pflegemöhrchenspender erkennen müssen, dass unsere ungewöhnliche Geschichte auch einen für die Helpline ungewöhnlichen Weg erfordert. Manche von uns konnten sich an das Leben in Menschenhand einfach nicht gewöhnen, obwohl schon viele Monate vergangen waren. Deshalb musste gehandelt werden. Gemeinsam mit 4 weiteren Ottenthalern durfte ich bei einem Tierpark einziehen. Hier bewohnen wir ein großes Gelände mit vielen anderen Kaninchen und dürfen wieder selbständig leben. Aber im Gegensatz zu Ottenthal stören wir hier niemanden, wir sind alle kastriert und geimpft und gesund. Die Entscheidung ist dem Team der Helpline sehr schwergefallen, aber alle hoffen, dass wir nun ein schönes Leben haben und im Kreise von Artgenossen und akzeptiert und versorgt von Menschen in eine schöne Zukunft hoppeln - aber dass wir die Freiheit, in die wir einst hineingeboren worden sind, zurückbekommen.
Juli 2012